Die Geister scheiden sich am Jenseits

Beide stehen auf dem Boden der Reformation. Und dennoch betrachten sich Landeskirchen und evangelikale Gemeinschaften oft misstrauisch. Das offene Gespräch soll keine Unterschiede einebnen – und kann dies auch nicht. Aber es kann dazu beitragen, dass die jeweils andere Seite ebenfalls als ein Teil der weltweiten Kirche wahrgenommen wird.

Ohne die Unterschiede zwischen Reformierten und Evangelikalen zu benennen, könnten die beiden ungleichen Geschwister nicht zueinander finden. Dies vertrat der frühere Synodalrat und Departementschef Theologie, Ruedi Heinzer, an der Tagung "Evangelikales Christentum fordert uns heraus", die 2006 im Schloss Hüningen stattfand. Es gebe durchaus einen Graben, welcher die beiden Seiten trenne. Und man tue gut daran, ihn ernst zu nehmen und ihn nicht mit höflichem Unrat zuzuschütten.

Heinzer fand die zentralen Unterschiede im unterschiedlichen Heilsverständnis. "In keinem anderen ist das Heil", lautet das Credo der Evangelikalen. An Jesus Christus und Bezug zu ihm entscheide sich, wo ein Mensch die Ewigkeit verbringe. Notgedrungen liessen evangelikale Christen biblische Aussagen beiseite, die in dieses Bild nicht passen – etwa Hinweise darauf, dass Menschen durchaus auch nach ihren Werken beurteilt werden.

Miteinander reden, aufeinander hören

Landeskirchliche Theologie hingegen, so Heinzer, lasse dieses Thema aus und drücke sich um eindeutige Stellungnahmen zum Jenseits. Ihre Exponentinnen und Exponenten verträten statt dessen diffuse Meinungen oder verschanzten sich hinter Aussagen, man könne über das Jenseits gar nichts wissen – man blendet das Thema einfach aus. Für eine Kirche, die seit 150 Jahren kein Glaubensbekenntnis hat, ist dies wenig erstaunlich.

Trotz dieser zutiefst unterschiedlichen Haltung zum Jenseits könnten und müssten Evangelikale und Landeskirchler zusammenarbeiten, meint Heinzer weiter. Denn so linientreu seien in aller Regel weder freikirchliche Prediger noch landeskirchliche Pfarrpersonen. Denn beide wollten ja bewusst als Christinnen und Christen leben, von Christus lernen und ihr Leben auf ihn ausrichten. Voraussetzung für ein erspriessliches Miteinander sei aber, dass Lehrunterschiede offen auf den Tisch gelegt und schonungslos ausdiskutiert würden. Und dass beide Seiten bereit sind, voneinander zu lernen – ohne die jeweils andere Seite bereits zum vornherein als "ungläubig", beziehungsweise als

Machthunger im frommen Gewand

Allerdings gebe es im evangelikalen Raum durchaus Entwicklungen, die Anlass zu Sorge gäben, bemerkte Christoph Witzig vom trans-forum in Winterthur, das beim Ausstieg aus bevormundender Religiosität berät, an der Tagung. Freikirchen böten vielen Menschen oft Auswege aus der Identitätskrise an. Das Angebot sei eine neue Identität – diejenige als evangelikales Gemeindemitglied. Doch was aussehe als Ausweg aus der Identitätskrise, verstärke in Wirklichkeit die Not, denn sie ziele auf Gleichschaltung und Unterwerfung unter ein Lehrsystem, statt auf Verantwortung und Liebe.

Es sei Machthunger im frommen Gewand, der sich hier zeige, so Witzig weiter. Gewisse evangelikale Gemeindeleiter benähmen sich wie Saulus: In der festen Überzeugung, Gott zu dienen, täten sie das Gegenteil. Nicht anders als die katholische Kirche des Mittelalters schöben sie sich zwischen die Menschen und Gott und nähmen für sich in Anspruch, die Bibel richtig und für jede Situation verbindlich auslegen zu können.

Schubladen taugen nicht

Dass die Gleichungen "landeskirchlich gleich liberal und politisch links", "evangelikal gleich konservativ und politisch rechts" nicht aufgehen, machte der Theologe Ralph Kunz an einer zweiten Tagung zum selben Thema 2007 in Kappel am Albis klar. Solche Stereotypen seien Gesprächskiller, soweit sie nur der Abgrenzung dienten. Dazu komme mangelndes Interesse und geringer Sachverstand der Medienschaffenden, welche solche Bilder dann in die Öffentlichkeit transportierten.

Dem stellte Kunz eine "reformierte Katholizität" gegenüber. Es gebe nur eine allgemeine, universale, eben "katholische" Kirche. Und zu der gehörten alle christlichen Konfessionen. "Eine lebenstüchtige evangelische Frömmigkeit braucht Diversität", betonte Kunz. Grabenkämpfe seien deshalb ebenso fehl am Platz wie Träume von Harmonie und Einheit. Was die Kirche brauche, seien verschiedene Frömmigkeitsrichtungen sowie die Bereitschaft, voneinander zu lernen. 

Auch Peter Schmid, Medienschaffender und Zürcher Synodaler betonte: "Die Evangelikalen gibt es nicht." In den Medien werde das Etikett "evangelikal" häufig dazu missbraucht, christliche Bewegungen als totalitär zu diffamieren, in die rechtsnationalistische Ecke zu stellen und als hinterwäldlerisch oder fundamentalistisch zu diskreditieren. Positive Berichterstattung sei die Ausnahme, nicht die Regel. Doch die evangelikale Szene sei in Bezug auf ihre Einstellung zu gesellschaftlichen Fragen, ihre politischen Ansichten und ihre Spiritualität so vielfältig, dass jeder Versuch, diese Bewegung in ein einheitliches Schema zu pressen, scheitern müsse.

Dabei gebe es auf der liberalen Seite einen ebenso strengen Fundamentalismus wie auf der evangelikalen Seite, bemerkte Bruno Waldvogel, Pfarrer in Basel. "Die Liberalen wissen zwar, was sie nicht wollen, hingegen aber kaum, was sie wollen", hat er beobachtet. Und dieses Nicht-Wissen werde dann zum Dogma erklärt, an dem sich die eigene, aber auch die Theologie evangelikaler Gruppen zu messen hat. Daraus folge dann eine liberale Wagenburg-Mentalität, sagt Waldvogel, die nicht geringer sei als diejenige der Evangelikalen.

Thomas Uhland, Susanna Meyer