2001-2010: Ein neuer Zugang zur Lebensperspektive Arbeit im Kirchengebiet

Ob 2001 oder 2010: Die Erwerbsarbeit ist und bleibt der Hauptintegrationsmechanismus unserer Gesellschaft. Sie bestimmt nach wie vor massgeblich den Status eines Menschen in seinem Umfeld. Sie ist für ihn ebenfalls eine wichtige Quelle von Lebenssinn und Selbstwert geblieben. Trotzdem hat sich etwas geändert. 2001 waren Massnahmen zur Reintegration von Menschen, die ihre Stelle verloren hatten, absolut vorrangig. Im Verlaufe des Jahrzehnts traten zum einen arbeitsmarktbezogene Präventivprojekte neben sie sowie der Versuch, ältere Langzeiterwerbslose über gemeinschafts- und selbstwertfördernde Angebote zu stärken.

2001 waren in unserem Land laut Statistik 67 000 Menschen erwerbslos; 2002 übersprang die die Zahl der registrierten erwerbslosen Frauen und Männern in der Schweiz die 100'000 Grenze und stieg in den Folgejahren kontinuierlich an. 2010 waren es deren 152'000.[1]

Diese Entwicklung blieb nicht ohne Einfluss auf den ausser- und innerkirchlichen Diskurs – so auch in unserem Kirchengebiet.

Möglichst rasch wieder eine Stelle

Menschen, die eine Stelle verloren hatten, möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder ihnen wenigstens eine gute Anschlusslösung zu bieten, ist bis heute das primäre Ziel geblieben. Der Staat überträgt diese vorab staatliche Aufgabe auch an nicht-staatliche Stellen. Gestützt auf entsprechende Leistungsvereinbarungen bietet das Centre Social Protestant CSP Moutier über sein Werk Regenove in Tramelan seit 1994 langzeiterwerbslosen Menschen im französischsprachigen Kirchengebiet umfassende Wiedereingliederungs- und Beschäftigungsprogramme an. Um diesen Standort zu sichern, gewährte der Synodalrat 2008 ein entsprechendes Darlehen. Kirchgemeinden und gesamtkirchliche Dienste wirken aber auch im Kleinen. Kirchgemeindemitglieder vermitteln über ihre Beziehungsnetze einzelnen Menschen immer mal wieder eine Stelle. Seit 1998 bieten die gesamtkirchlichen Dienste ausgesteuerten Menschen Praktikastellen zur beruflichen und sozialden Integration an.

Möglichst früh präventiv wirken

Auf dem Hintergrund der steigenden und sich verfestigenden ‚Sockelarbeitslosigkeit’ gewannen Präventionsfragen im gesellschaftlichen Diskurs an Bedeutung. Für die Kirche und ihre Möglichkeiten stellen sich diese vorab auf der individuellen Ebene.

Im Jahr 2005 sprach die Wintersynode zur Stärkung armutsbetroffener Kinder einen Kredit für das Patenschaftsprojekt "mit mir" in Biel (Wintersynode 2005, Traktandum 14). Die Thematik der Erwerbslosigkeit wurde damals noch nicht explizit aufgegriffen. Im Anschluss an diese Diskussion kristallisierten sich dennoch zwei Handlungsstränge im Engagement für Menschen ohne Erwerbsarbeit heraus: Zum einen sollen die präventiven, zum anderen die alternativen Aspekte sozialer Einbindung und Selbstermächtigung berücksichtigt werden.

Den ersten präventiven Ansatz hiess die Synode im Winter 2007 mit dem Jugendprojekt "start@work" gut. Der Lehrbetriebsverbund start@work hat zum Ziel, jungen Menschen mit erschwerten Bedingungen den Einstieg ins Erwerbsleben zu ermöglichen und ihnen mit einer Lehre gute berufliche Perspektiven zu eröffnen. Dabei soll das Potenzial der Kirchgemeinden genutzt werden, die interessante Ausbildungsmöglichkeiten insbesondere beim Unterhalt von Gebäuden und Anlagen anbieten können. Mit dem Projekt "start@work" wird Jugendlichen in einer kritischen Lebensphase der Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt erleichtert. Ein Berufsabschluss senkt das Risiko einer zukünftigen Erwerbslosigkeit und leistet einen Beitrag zur Prävention von Armutsbetroffenheit. Bis 2010 wurden über start@work dreizehn Lehrstellen für angehende Fachmänner und Fachfrauen Fachmann/-frau Betriebsunterhalt geschaffen, acht davon in Kirchgemeinden. In diese Zeit fällt ebenfalls der erste erfolgreiche Lehrabschluss.

2009 setzte sich die Wintersynode intensiv mit der Familienarmut auseinander. Sie nahm mit Bestürzung davon Kenntnis, dass Kinder überproportional von der Armut betroffen sind sowie davon, dass das Risiko dieser Kinder, dereinst als Erwachsene arm zu sein, ebenfalls überproportional hoch ist. Sie dehnte das Patenschaftsprojekt „mit mir" auf das ganze Kirchengebiet aus und verband damit die Hoffnung, so der sozialen Vererbung von Familienarmut entgegenzuwirken und damit die Chancen auf die spätere berufliche Einbindung der Jugendlichen zu erhöhen.

Wider die soziale Isolation erwerbsloser älterer Menschen

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes 2001–2010 und die daraus resultierende Sockelarbeitslosigkeit führen dazu, dass immer mehr Menschen, insbesondere ältere Menschen, der Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt nicht, resp. nicht mehr gelingt. Trotzdem dringt es erst langsam ins öffentliche Bewusstsein, dass Erwerbslosigkeit oft einen strukturellen Ursprung hat und Betroffene sozial ausgegrenzt werden. Die betroffenen Personen sehen sich nicht nur mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Sie fühlen sich oft einsam und unnütz. Sie schämen sich und verlieren die Lebensperspektive.

Alternative Modelle der sozialen Einbindung jenseits der traditionellen Arbeitsnormen werden mit dem Projekt "50+ im Fokus - Langzeiterwerbslose fotografieren ihre vertraute Lebenswelt" ab 2012 in Kirchgemeinden erprobt (Beschluss der Sommersynode 2011). Im Zentrum stehen nicht die leistungsfähigen und flexiblen Arbeitnehmenden, sondern empfindsame, wahrnehmungs-, kommunikations- und kooperationsfähige Menschen, welche um ihrer Selbstwillen Anerkennung erfahren. Über gezielte Angebote wird ihnen im Kirchgemeindehaus Anregung, Gemeinschaft und Stärkung geboten. Mit diesem Projekt setzen die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn ein Zeichen für eine soziale Einbindung und Selbstermächtigung von Sozialhilfe- und IV-Renten-Bezügern im mittleren Alter ausserhalb des ersten Arbeitsmarktes. Die Dokumentation ‚50+ IM FOKUS – Ortsperspektiven’ bietet Einblick in das Wirken der beiden ersten Workshops in den Kirchgemeinden Spiez und Bern (Münster, Nydegg, ‚Eglise française réformée Berne).

Alena Ramseyer, Beatrice Pfister

 


[1] Quelle: Bundesamt für Statistik 2012

Hinweis

Die Broschüre "50+ im Fokus – Ortsperspektiven" kann gegen ein Entgelt von Fr. 5.– bestellt werden bei:

Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn | Kirchenkanzlei | Altenbergstrasse 66 | Postfach 511 | 3000 Bern 25
Telefon +41 31 340 24 24 | Fax +41 31 340 24 25 | sozdiakonie@refbejuso.ch | www.refbejuso.ch

 

Alain Müller feiert seinen erfolgreichen Lehrabschluss. Er hat die Lehre zum Fachmann Betriebsunterhalt in der ref. Kirchgemeinde Ittigen absolviert.
Der angehende Fachmann Betriebsunterhalt Alain Müller und sein Praxisausbildner Andreas Zürcher, Sigrist, sorgen für eine gereinigte und schön eingerichtete Kirche.

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