Der Weg zum geschätzten Partner

Die Geschichte des Care Team Kanton Bern zeigt, wie die Kirche gesellschaftli­che Notwendigkeiten erkennt und visionär Lösungen findet. Die Kirche baute die kantonale Notfallseelsorge mit auf und wirkt bis heute als verlässlicher Partner mit. Die psychosoziale Betreuung traumatisierter Menschen ist heute eine verbriefte Aufgabe.

Die Ereignisse des 27. Juli 1999 erschütterten die ganze Schweiz. Eine Gruppe Touri­sten wurden beim Canyoning in der Saxetenschlucht von einer zwei Meter hohen Sturzflut erfasst, alle ertranken. In der Gruppe waren 21 Touristen aus Australien, Neuseeland, England, Südafrika und der Schweiz. Ein typischer Einsatz für ein Care Team. Heute gehören auch persönliche Katastrophen wie der Verlust eines Angehörigen durch Suizid, plötzlicher Kindstod u.a. ins Aufgabenfeld der Care Teams.

Am Anfang der Bernischen Notfallseelsorge (später auch PEH genannt) stand die Feststellung, dass Betroffene und Angehörige in Katastrophenfällen psychosoziale Begleitung brauchen. Pfarrer Bernhard Stähli, Pionier der Notfallseelsorge, wusste um das grosse Potenzial der Pfarrerinnen und Pfarrer.

Stähli startete das Pilotprojekt "Psychologische Erste Hilfe". Das Canyoning Unglück von 1999 machte deutlich, dass die Einsatzkräfte von Feuerwehr, Polizei, Sanität und Notfallseelsorge näher zusammenrücken müssen. Die damalige Regierungsrätin Dora Andres setzte sich mit grossem Engagement für die Schaffung einer kantonalen Einsatzorganisation ein. Hilfreich war dabei die besonders enge Verbindung von Kirche und Staat im Kanton. Der Leiter der Kirchendirektion, Hansruedi Spichiger (im Amt bis Sommer 2012), der Regierungsrat und der Synodalrat der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn arbeiteten gemeinsam mit dem Pionier Pfr. Bernard Stähli an der Ausarbeitung eines Konzepts kantonaler Notfallsseelsorge. Ab dem Jahr 2000 wurde das Care Team Kanton Bern (CTKB) kontinuierlich aufgebaut. Seit zwei Jahren leitet Pfr. Urs Howald das CTKB, der bereits seit Beginn beim Care Team mitmachte, zuletzt als Einsatzleiter: "Die erneute Wahl eines Pfarrers an die Spitze ist ein Zeichen der Wertschätzung. Explizit wurde gewünscht, dass eine Person die Einsatzsorganisation leitet, die eine gute Beziehung zur Kirche und zu den Kirchgemeinden hat". Auch der Stellvertreter Pierre-André Kuchen ist Pfarrer, was schweizweit einmalig sei. In einem Gespräch geben die zwei Leiter des Care Team Kanton Bern Einblick in den anspruchsvollen Dienst und schildern dessen Entwicklung.

Gedenkort am Saxetenbach, Wilderswil
Gedenkort am Saxetenbach, Wilderswil
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Gedenkort am Saxetenbach, Wilderswil
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Gedenkort am Saxetenbach, Wilderswil
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Gedenkort am Saxetenbach, Wilderswil
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Worin zeichnen sich Pfarrerinnen, Pfarrer als Notfallseelsorger aus?

Urs Howald: Die Seelsorge gehört zu den Grundaufgaben des Berufs Pfarrerin/Pfarrer. Aus der langen christlichen Tradition und der Erfahrung in der Begleitung von Menschen in unterschiedlichsten schwierigen Situationen entstand ein Menschenbild, das sich so zusammenfassen lässt: Jeder Mensch ist fähig eine belastende Situation zu bewältigen. Wir trauen den Betroffenen das zu, wir helfen ihnen dabei, ihre eigenen Ressourcen wiederzufinden. Diese Grundhaltung, dieses Grundvertrauen basiert bei mir auf dem Glauben. Wichtig ist aber: Alle Mitglieder im Care Team, arbeiten nach demselben Interventionsmodell. Ein Care Modell, das geprägt wird von einem christlichen Menschenbild, ein Bild das auch in der humanistischen Psychologie zu finden ist.

Pierre-André Kuchen: Am Anfang wurden wir von unseren Partnern der Blaulichtformationen (Polizei, Feuerwehr, Sanität, Anm. der Redaktion) hin und wieder in Frage gestellt. Doch immer mehr wurde das kompetente Wirken der Männer und Frauen der Care Organisation im Einsatz geschätzt, und die Profis der anderen Fachrichtungen konnten erfahren, wie strukturierende Gespräche oder Rituale in einer Ausnahmesituation für die Betroffenen stabilisierend wirken.

Allerdings reicht der Beruf allein nicht aus für die Qualifizierung als Care-Mitarbeiterin oder -Mitarbeiter. Auch Pfarrerinnen und Pfarrer müssen sich fragen: "Kann ich diese Aufgabe übernehmen?", denn jede / jeder hat ein anderes Talent. Wir müssen uns verwahren vor dem, was ich die ‚Sünde des alles Könnens’ nenne, und so ist besonders für den Care-Einsatz eine zusätzliche Ausbildung unverzichtbar.

Zu Beginn musste also Überzeugungsarbeit geleistet werden?

Kuchen: In Trainingseinheiten kamen die Pfarrerinnen, Pfarrer und Fachleute der Psychologie in direkten Kontakt mit anderen Berufsleuten, die täglich mit Ausnahmesituationen konfrontiert sind. Sei es bei der Polizei, der Sanität oder der Feuerwehr. Das war und ist eine grosse Chance für alle. Schnell wurde klar, dass wir von einander lernen können, um den anspruchsvollen Einsätzen gerecht zu werden. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Blaudienstformationen war nicht so ausgeprägt wie heute. Durch unser Mitmachen veränderte sich auch die Arbeitsweise der Partnerformationen – sie wuchsen näher zusammen.

Howald: Effektiv! Der Care-Gedanke führte dazu, dass eine neue kantonale Einsatzorganisation geschaffen wurde, welche sich in die Gesamtstrategie der Ereignisbewältigung und der beteiligten Organisationen nahtlos einfügt. Dabei ist eine strukturierte Vorgehensweise sehr wichtig. In einer Krisensituation haben Führungsfragen keinen Platz, diese müssen vorgängig geklärt worden sein: Welche Formation hat vor Ort das Sagen? Welche Abläufe gelten? Wer hat welche Kompetenzen und Verantwortungen? Heute ist klar: die Polizei koordiniert die Einsätze. Ebenso wichtig ist, dass wir als Einheit auftreten, nach den gleichen Prinzipien arbeiten und einem Ziel verpflichtet sind – die Betroffenen zu befähigen, eigene Strategien der Bewältigung eines Ereignisses zu entwickeln.

Nach der Arbeit ist vor der Arbeit

Nach Jahren gemeinsam gemachter Erfahrungen wissen die Partner um die Kompetenzen des Care Teams. Gemeinsame Aus- und Weiterbildungen tragen das ihre dazu bei, dass sich die verschiedenen Berufsleute der Partnerorganisationen und die Milizionäre des CTKB persönlich kennen und schätzen, erklärt Howald.

Was ermöglicht, dass die verschiedenen Formationen "blind" Hand in Hand arbeiten. Die letzten Jahre beschreibt der Leiter als Epoche der Konsolidierung und Verschriftlichung: Abläufe definieren und festhalten, Pflichtenhefte erstellen, Leistungsverträge und Kursinhalte überarbeiten, Rekrutierungsanforderungen ausformulieren und bei der gesetzlichen Verankerung in den Verordnungen des Bevölkerungsschutzes und der Kirchenordnung mitarbeiten. Dabei sei aber der Pionier-Gedanke "als Kirche am Puls der Zeit zu sein" nicht verloren gegangen. Ein Motiv, das die beiden Leiter ebenfalls ins Care Team führte. Die Unterzeichnung der neuen Leistungsvereinbarung im März 2011 zwischen den Trägern - Kanton und der IKK (Interkonfessionelle Konferenz, d.h. die drei Landeskirchen und die Interessengemeinschaft jüdischer Gemeinden Kanton Bern) - war ein weiterer Meilenstein. Die Entwicklung geht weiter. Der Kanton will eine Einsatzorganisation, die funktioniert, die auch für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet ist. Als Mitglied der Arbeitsgruppe Notfallseelsorge Schweiz (AGNFS) und der Steuerungsgruppe des Nationalen Netzwerkes für psychologische Nothilfe (NNPN) arbeitet Pierre-André Kuchen mit, die Richtlinien und Ausbildungsstandards der Care-Arbeit zu optimieren. Das Berner Modell prägt diese mit, die Schaffung von Einsatzleitern innerhalb eines Care Teams ist beispielsweise einer der übernommenen Grundsätze. Die neusten nationalen Richtlinien sollen im 2013 erscheinen.

Stichwort Rekrutierung. Ist die Zukunft des Care Team gesichert?

Kuchen: In der französischsprachigen Schweiz haben wir ein Problem. Mit "wir", meine ich die Kirche und den Milizdienst beim Care Team. Es ist ernst. Bald fehlen rund 150 bis 200 Pfarrer in der Suisse Romande. Etliche Pfarrer in unserem Kirchengebiet gehen demnächst in Rente und 2011 beendeten nur sehr wenige Studentinnen und Studenten ihr Theologiestudium!

Für das Care Team wird es somit immer schwieriger, innerhalb der schmalen Verfügbarkeit der Pfarrpersonen, Milizionäre zu gewinnen. Es ist eine grosse Herausforderung. Dabei zeigt unsere Erfahrung, wie die Ausbildung beim CTKB den Pfarrpersonen zusätzliche Kompetenzen vermittelt, die auch im Gemeindealltag stützend wirken: Management, Reflexion und Vernetzung, um Krisen aller Art besser bewältigen zu können.

Howald: Auch bei Psychologinnen und Psychologen ist die Rekrutierung nicht einfach. Doch für 2012/13 sieht es gut aus, wir werden voraussichtlich acht neue Care Profis ausbilden können und auch genügend für das frankophone Team.

Immer häufiger werden wir auch für Referenzen bei Stellenbewerbungen angefragt. Arbeitgeber schätzen das Engagement unserer Mitglieder beim Care Team als Dienst für die Gesellschaft, aber auch darum, weil sie den Mehrwert für den eigenen Betrieb erkennen.

Kuchen: Die Verankerung der Notfallseelsorge in der Kirchenordung ist ein Signal für die Kirchgemeinden: die Kirche motiviert Pfarrpersonen, sich im Care Team zu engagieren. Dies hilft uns bei der Rekrutierung und zeigt, dass Kirchgemeinden den übergemeindlichen diakonischen Auftrag der Notfallseelsorge erkannt haben.

Ist Ihnen deshalb der Beschluss der Wintersynode 2011 so wichtig?

Howald: Ja, aber nicht nur. Die Verankerung in der Kirchenordnung und auch das Unterschreiben der Leistungsvereinbarung wirken vielgestaltig. Beides sind starke Signale. Ein Ja der Kirche, das den Partnern zeigt ‚ihr könnt euch auf uns verlassen’. Nach dem schnellen Wachstum ist ein solches Bekenntnis wichtig; innerkirchlich, wie auch nach aussen.

"Und Jesus zog in ganz Galiläa umher (…) und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen unter dem Volk.” (Mt 4,23.24)

Wie und ob die Kirche sich in "weltliche" Angelegenheiten "einmischt", wird immer wieder diskutiert. Pierre André Kuchen weist darauf hin, dass die Kirche im Sinne der ecclesia sempre reformanda, die Prioritäten immer wieder prüfen muss. Vielleicht werde die Kirche aufgefordert einen neuen Weg einzuschlagen, vermehrt hinaus zu gehen, zu den Menschen. Die Kirche kann "nicht fernbleiben", er wünscht sich eine Kirche die ihre Offenheit beibehält, Herausforderungen annimmt und weiterhin Notwendiges für die Gesellschaft leistet. Das Wort "commitment" fällt oft im Gespräch. Der Englische Ausdruck kann als Verpflichtung oder als Engagement verstanden werden. Die beiden Leiter des Care Team vermitteln den Eindruck, dass sie sich persönlich sehr für die psychosoziale Betreuung traumatisierter Menschen engagieren und sich als Theologen auch der Gesellschaft verpflichtet fühlen. Achtsam und leicht wandeln die beiden Männer zwischen Theologie und Psychologie, zwischen Kirche und Staat; beheimatet im Glauben und offen für die Welt und die Menschen.

Barbara Richiger

 

Care Team Kanton Bern

btr. Das CTKB wurde ab 2000 aufgebaut und leistet heute mit 180 Milizionären durchschnittlich 500 Einsätze für rund 700 Betroffene pro Jahr. Das entspricht jährlich zirka 1'700 Betreuungsstunden. Die Geschlechter sind je hälftig vertreten, alle Teammitglieder sprechen mindestens Deutsch und Französisch und bringen eine offene Haltung mit. Die Anforderungen an die interkulturelle und interreligiöse Kompetenz der Milizionäre sind gestiegen (nicht zuletzt durch Tourismus und Migration).

Die Interventionsmethode des CTKB basiert auf einem anerkannten Kriseninterventionsmodell und zielt darauf hin, die Menschen in einer Ausnahmesituation so zu begleiten, dass diese wieder aus eigener Kraft Bewältigungsstrategien entwickeln können. Das Care Team des Kantons Bern geniesst einen ausgezeichneten Ruf und negative Feedbacks gibt es selten.

Finanziell wird das CTKB getragen von der Polizei- und Militärdirektion Kanton Bern (Amt für Bevölkerungsschutz und Militär), der Justiz-, Gemeinde-, und Kirchendirektion sowie der IKK (Interkonfessionelle Konferenz), den grössten Teil der Kosten trägt der Kanton.

www.be.ch/careteam

 
Pfr. Urs Howald links (Leiter) und Pierre André Kuchen rechts (Co-Leiter) leiten heute gemeinsam das Care Team Kanton Bern.