Ein Gespräch mit Benz H.R. Schär
Benz H.R. Schär war von 1983-1988 Migrationssekretär des SEK und 1999 bis Ende 2008 Leiter der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Er verfolgte die Veränderungen im Migrationsbereich und prägte die Weiterentwicklung der kirchlichen Migrationsarbeit mit.
Gab es für deine Arbeit prägende Erfahrungen?
In meinem Studienurlaub in Australien (1999) lernte ich ein Land näher kennen, für das die Einwanderung und folglich ein Zusammenleben vieler Kulturen der Normalfall ist. Integration ist erwünscht und wird auch gefördert. Auf eine rasche Einbürgerung wird – wie in der Schweiz vor dem ersten Weltkrieg – gedrängt. Mit Quoten und einem Punktesystem wird die klassische Einwanderung effizient geregelt. Schwerer tat (und tut) sich auch Australien mit der Asyl-Migration. Hier galten in Australien bereits damals Regelungen von einer Härte, die mich erschreckte - und der wir uns heute in der Schweiz Schritt für Schritt mit immer neuen Gesetzesrevisionen annähern.
Lässt sich die Einwanderung in den Griff kriegen?
Wir können diesen Prozess nicht verhindern und können ihn bloss marginal steuern. Wir können ihn aber je nachdem mit klugen und zukunftsweisenden Massnahmen begleiten. "Nation Building" heisst das Stichwort in Australien und in manchen andern Ländern. Es geht darum, dass das durch Einwanderung neu gemischte Land ein Ganzes bleibt oder ein Ganzes wird. Es geht um sozialen Zusammenhalt, um Gerechtigkeit, biblisch gesehen: um "Schalom". Integration ist in diesen Zusammenhang zu stellen. In der Schweiz werden dagegen immer wieder einseitige Anpassungsleistungen von den Migrantinnen und Migranten erwartet.
Was hat sich denn in all den Jahren verändert?
Die Pionierzeit der kirchlichen Migrationsarbeit (60er- und 70er Jahre), in der Migrantinnen und Migranten fast grundsätzlich als Menschen minderen Rechts gelten konnten und sich Menschen mit gutem Herz für einzelne erniedrigte Migrantinnen und Migranten oder spezifische Gruppen von Zugezogenen (z.B. Saisonniers) einsetzten, ging langsam zu Ende. Auch wenn es diese Gruppen immer noch gibt (heute z.B. die Sans-Papiers) und sie immer noch ein besonderes Augenmerk verdienen: Migration in der Schweiz lässt sich aus dieser Perspektive nicht mehr zureichend verstehen und bearbeiten. Neue Fragen stellten sich oder müssten gestellt werden: Migranten sind heute nicht mehr per se arm; die Schweiz ist heute weit über die 20% "Ausländer" hinaus durch Migration geprägt, sie ist de facto multikulturell geworden – möchte sich aber noch immer nicht als "Einwanderungsland" sehen und spricht weiter bloss von ihrer Viersprachigkeit, wo doch selbst Albanisch von mehr Menschen gesprochen wird als Rumantsch.
Und die kirchliche Migrationsarbeit heute?
Den Pionieren folgten Fachleute, die mit ihrem Spezialwissen mehr und mehr Beratungsaufgaben für andere Multiplikatoren in der Migrationsarbeit übernahmen (vom "Amt für Migration" zur "Fachstelle Migration"). Auch der Kontakt zu den Kirchgemeinden - einzelne von ihnen hatten als asylgewährende Kirchgemeinden prägende Erfahrungen und Lernprozesse durchgemacht - wurde auf eine neue Basis gestellt. Das Netzwerk Joint Future der Fachstelle Migration mit Engagierten aus Kirchgemeinden stellt heute den kontinuierlichen Informations- und Erfahrungsaustausch sicher. Früher gab es dagegen mehr gemeinsame Animationsprojekte z. B. auch länderübergreifende Studienwochen mit Jugendlichen aus kirchlichen Kreisen der Schweiz und solchen aus spanischen Auswanderungsgebieten.
Politische Fragestellungen wurden – über das blosse Reagieren auf immer neue fremdenfeindliche Vorstösse und die Asylgesetzrevisionen hinaus – in die Arbeitspläne aufgenommen: Die Kampagne Joint Future nahm das Thema Integration auf und sie tat es im richtigen Moment: als es langsam klar wurde, wie sehr die bereits geschehene Einwanderung unser gesellschaftliches Leben prägt und dass Bund, Kantone und Gemeinden Integrationsaufgaben zu erfüllen haben. Entsprechend gewann das politische Lobbying an Gewicht.
Du warst viel in Europa unterwegs...
Ich war über Jahre als Delegierter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes Vorstandsmitglied der Churches' Commission for Migrants in Europe (CCME). Dies half mir, die Welt der Migrationen besser zu verstehen und sie nicht nur aus der Perspektive der kleinen Schweiz anzuschauen. Da die CCME jedoch stark auf die Europapolitik der EU ausgerichtet ist, war eine Übertragung ihrer Arbeit auf die Schweizer Kirchen schwierig. Einen entscheidenden Impuls, der auch hierzulande Auswirkungen hatte, erhielt ich jedoch 2004 aus der Konferenz "Essere chiesa insieme" in Italien: Migrationsgemeinden und Ortskirchen, die "zusammen Kirche sein" möchten – diese Aufgabe ist nun auch in der Schweiz ein Thema.
Geht es bloss um "Konfessionen"? Hat nicht auch der Faktor "Religion" neues Gewicht bekommen?
Beides hängt zusammen, und beides hat damit zu tun, dass die Eingewanderten ihre Kultur leben wollen. Die Migrationsarbeit der katholischen Kirche ist bis heute stark durch pastorale Anliegen geprägt: Es geht darum, die ebenfalls katholischen Einwanderer einzubinden und sie kirchlich zu versorgen? Die frühe Arbeit der Reformierten klammerte dagegen diesen Aspekt bewusst aus: Die Eingewanderten waren ja anderer Konfession oder eben (z.B. im Fall der Saisonniers aus dem Kosovo oder der Türkei) gar anderer Religion. Man beschränkte sich also auf soziale und politische Anliegen. Hier hat uns die Geschichte nach und nach zu Korrekturen genötigt: Es gibt nun eine erhebliche Zahl von Migrantinnen und Migrantinnen, die sich selbstbewusst als "Migrationskirchen" organisiert haben – oft gerade in Opposition zu einer weitgehend entchristlichten europäischen Umgebung. Religionszugehörigkeit spielt aber auch für eingewanderte Muslime und Hindus neu eine wichtige Rolle. Religion und Glauben haben in den letzten Jahren die kirchliche Migrationsarbeit (wie auch die Politik!) neu herausgefordert: neue ökumenische Partnerschaften z.B. mit afrikanischen Migrationskirchen wurden nötig, der interreligiöse Dialog war kein bloss akademisches Thema mehr, in Bern entstand ein Projekt "Haus der Religionen/Dialog der Kulturen" – und steht heute vor der Realisierung.
Was war dir besonders wichtig?
In der kirchlichen Migrationsarbeit stellten sich immer wieder grundsätzliche theologisch-ethische Fragen, zum Beispiel, wenn zu begründen war, weshalb es für uns Positionen gibt, die nicht verhandelbar, nicht zu relativieren sind. Das "migrationspolitische Credo" war 2003 ein Versuch, diese für den damaligen Kontext zu umschreiben. Zu wissen, dass es diese Kernzone unserer Überzeugung gab und worin sie bestand, war immer wieder motivierend und gab uns in den Widrigkeiten der täglichen Politik (manchmal auch der kirchlichen) den langen Atem.
Annemarie Saxer