Interview mit Matthias Jäggi, Pfarrer, Kirchgemeinde Ostermundigen
Wie hat die Kirchgemeinde weltweite Solidarität gestaltet?
Während der jährlichen Kampagne von Brot für alle und Fastenopfer haben wir in Ostermundigen in den Jahren 2000 bis 2010 immer je ein Projekt in Indonesien und in Guatemala unterstützt. Diese Unterstützung in der Passionszeit war ein Fixpunkt in der OeME-Agenda der Kirchgemeinde. Meist haben wir nicht nur Geld gesammelt, sondern auch informiert – mit aktuellen Fotos auf Stellwänden im Saal des Kirchgemeindehauses, im ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der Kampagne, mit Filmvorführungen an den Suppentagen oder anlässlich von Begegnungen mit Gästen, vor allem aus Guatemala.
Ein konstantes Engagement über diesen langen Zeitraum ist für Kirchgemeinden eher selten. Welche Chancen liegen darin?
Um bei Guatemala zu bleiben: Das langjährige Dranbleiben liess uns immer wieder neue Facetten dieses Landes entdecken. Die regelmässigen Updates ermöglichten uns ausserdem, Entwicklungen mit zu verfolgen und in der Kirchgemeinde darüber zu erzählen. Zentral waren die verschiedenen Gäste, die wir über die Jahre bei uns empfangen konnten. Sie berichteten von ihrem Leben und ihrem Engagement für Gerechtigkeit und Versöhnung. Guatemala ist für uns deshalb mit Gesichtern und Geschichten verbunden. Unsere Solidarität wurde konkreter, differenzierter, und es entstand ein anwaltschaftliches, gemeinsames Unterwegssein durch all die Jahre. Wir konnten mit verfolgen, wie in Guatemala nach 38 Jahren Bürgerkrieg ein Friedensabkommen geschlossen wurde und wie wichtig dabei die Rolle zivilgesellschaftlicher Kräfte war. Wir bekamen mit, wie Vertreter und Vertreterinnen von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen bei der Umsetzung des Abkommens oft subtil eingeschüchtert oder offen bedroht wurden. Die Rückkehr reaktionärer Kräfte in die Politik und die wirtschaftliche Plünderung von Bodenschätzen verfolgen wir mit Sorge.
Wie wurden diese Besuche möglich?
Madeleine Rumpf, die langjährige Koordinatorin des Guatemalanetzes Bern, arbeitet in der Reformierten Kirche Ostermundigen im Bereich OeME mit. Wir haben es vor allem ihr zu verdanken, dass die Gäste des Guatemalanetzes meist auch in unserer Kirchgemeinde waren. Manchmal gab es Treffen im kleinen Kreis, manchmal traten die Gäste in einem Gottesdienst oder im kirchlichen Unterricht auf, manchmal luden wir die Gemeinde zu Begegnungsveranstaltungen ein. Oft stammten die Gäste aus HEKS-Projekten. Das hat uns auch konkrete Einblicke in die Entwicklungszusammenarbeit unseres evangelischen Hilfswerkes ermöglicht.
Gab es Highlights?
Ich erinnere mich an Isabelle de Solis aus Izabal, die bei uns im Oktober 2008 zu Gast war. Sie arbeitet bei AVANCSO, einem Institut, das im Bereich Landwirtschaft forscht. Isabelle de Solis hat sich auf das Thema Landrechte und insbesondere Landrechte von Frauen spezialisiert. Sie und ihre Kollegin haben uns bei einer Abendveranstaltung auf einem Bauernhof im benachbarten Ferenberg davon erzählt, wie Bildung indigenen Frauen den nötigen Mumm geben, ihre Rechte einzufordern. Der Veranstaltung ging eine gemeinsame Hofbesichtigung voraus, anschliessend haben wir zusammen Produkte vom Hof genossen und schliesslich noch Fotos im spätherbstlichen Schneetreiben gemacht. Das war ein lebendiger und lustiger Austausch. In guter Erinnerung habe ich auch einen abendlichen Gemeindeausflug aufs Schloss Burgdorf, wo im April 2005 unter dem Motto "Frauen gestalten die Welt" eine Ausstellung zur textilen Tradition in Guatemala gezeigt wurde – samt Einführung in die indigene Webtechnik.
Was hat dieses Guatemala-Engagement der Kirchgemeinde "gebracht"?
Ich sehe drei Ebenen: Zum einen ermöglichten der stete Infofluss und die gelegentlichen persönlichen Kontakte ein vertieftes Kennenlernen eines Landes und seiner Leute. Wir hatten so die Möglichkeit, kirchliche Solidarität zu leben. Zweites erhielten wir – wie ebenfalls erwähnt – Gelegenheit, die konkrete Arbeit eines unserer Hilfswerke zu begleiten. Wir erfuhren von den Fortschritten und manchmal auch von Stolpersteinen. HEKS erhielt in unserer Kirchgemeinde dadurch ein Profil. Schliesslich möchte ich die spirituelle Ebene erwähnen. In vielen Berichten und Begegnungen war auch etwas von der tiefen religiösen Verwurzelung der indigenen Bevölkerung Guatemalas zu spüren – von der Verwurzelung in der traditionellen Maya-Spiritualität oder im christlichen Glauben. Das fand ich faszinierend, beeindruckend und über alle kulturellen Grenzen hinweg verbindend.
Vielen Dank für das Gespräch.
Susanne Schneeberger Geisler