Pilgern - Kirche grenzüberschreitend unterwegs

In der Wirtschaftskrise von 1995 zerbrach der Glaube an unbegrenzten Fortschritt. Komplementär zum neoliberalen Effizienzsteigerungsdenken begann das Bedürfnis nach Langsamkeit, nach einer Balance von Erholung und Arbeit, nach Sinn, nach Naturbezug und nach Transzendenzerfahrung das Freizeitverhalten vieler Menschen mitzuprägen. Pilgern, wurde zum Ausdruck dieser Suche. Es entwickelte sich zu einem gesellschaftlichen Trend.

Die Region entwickeln

1997 begegneten sich 5 angesehene Oberländer auf der Lukschen Treppe in der Nähe der Beatushöhlen. Als Folge der Wirtschaftkrise suchten sie nach neuen, ökologisch verträglichen Elementen, die dem darbenden Tourismus im Berner Oberland Auftrieb geben könnten. Der Jakobsweg unter ihren Füssen sei ein solches Element, meinte der Merliger Lokalhistoriker und spätere Kirchgemeinderatspräsident Ueli Häsler. Joe Weber, Leiter der Arbeitslosenprogramme der Volkswirtschaftskammer Berner Oberland nahm diese Idee auf. Es entstanden daraus drei Regionalentwicklungsprojekte mit europäischer Dimension, in denen die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn eine wichtige Partnerin war.

Im Bewusstsein, dass es sich beim Jakobsweg um einen ganz besonderen Weitwanderweg handelt, dessen Besonderheit die Spiritualität ist, wurden unter anderem folgende Ziele erreicht:

  • Die Wege von Polen, von Tschechien, Deutschland, Österreich und aus dem Südtirol wurden beschrieben, zum Teil beschildert und grenzüberschreitend verbunden.
  • Die Infrastruktur (Schlafen, Essen, Informationsmöglichkeit) in den beteiligten Regionen wurde verbessert und dem höheren Pilgeraufkommen angepasst.
  • Viele Organisationen, welche sich im Pilgerbereich einsetzen, vernetzten sich miteinander.
  • Das Projekte machte Informations- und Planungsmaterial für eine Pilgerreise auf dem Internet und in gedruckter Form für verfügbar.
  • Es entstand eine Ausbildung für Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleiter.
  • Impulstage sensibilisierten die Gastgeber entlang des Weges für die Anliegen und Bedürfnisse der Pilger.
  • Verschiedene Studien vermitteln einen Eindruck, welche Bedeutung das Jakobspilgern im ersten Jahrzehnt des 2. Jahrtausends hatte.

Anfangs 2009 gab die Volkswirtschaftskammer Berner Oberland die Führung der Pilgerprojekte an den Verein Jakobsweg.ch ab.

Pilgern aktuell

In einer Studie, welche der Bereich Gemeindedienste und Bildung 2008 am Jakobsweg durchführte, konnte das Profil des modernen Pilgers aktualisiert werden:
Pilger sind mehrheitlich weiblich und  reisen in kleinen und grösseren Gruppen. Nur 12% verstehen das Pilgern auf dem Jakobsweg als Wallfahrt nach Santjago de Compostela. Die anderen sind einige Tage bis Wochen unterwegs auf der Suche danach, einen Übergang im Leben zu bewältigen, eine bessere Work Life Balance zu finden oder sich von einem markanten Erlebnis mit spirituellem Charakter bereichern zu lassen. Nur 17% der Menschen sind kirchlich verwurzelt. Weitere 60% lasse sich aber von spirituelle Motiven zum Aufbruch bewegen.

Ausbildung von Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleitern

Der Bereich Gemeindedienste und Bildung hat mitgeholfen, die transnationale Ausbildung zu konzipieren und weiter zu entwickeln. Auch in der Schweiz wurden in drei Lehrgängen Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleiter qualifiziert. Ende 2010 waren im deutschsprachigen Europa schon mehr als 200 Zertifikate ausgestellt worden. 2010 luden die Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleiter in der Schweiz zu 60 kürzeren und längeren Pilgerreisen ein.

Die Ausbildung zur Pilgerbegleiterin, zum Pilgerbegleiter setzt einen Schwerpunkt  bei der spirituellen Begleitung einer Gruppe. Wer pilgert, setzt sich schöpferischen Gestaltungskräften aus. Pilgern ist ein Verwandlungsweg. Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleiter können diesen spirituellen Wandlungs- und Reifungsprozess durch eine geeignete Gestaltung der Tage anregen und unterstützen.

Eine Liste von Pilgerbegleiterinnen und Pilgerbegleitern, die nach den Standards des Projektes Europäische Jakobswege ausgebildet sind und Pilgergruppen ihre Dienste anbieten, finden Sie hier.

Pilgern als bewegte Form der Erwachsenen- und Jugendarbeit in den Kirchgemeinden

Zunehmende mehr Kirchgemeinden entdeckten für sich das Pilgern als bewegte Form kirchlicher Jugend- und Erwachsenenarbeit. Konfirmanden und Unterweisungsklassen, Seniorenwandergruppen, Kirchgemeinderäte und kirchliche Mitarbeiterinnen auf ihren Ausflügen entdeckten die wohltuenden Qualitäten eines oder einiger Pilgertage für sich. In manchen Kirchgemeinden gehört die jährliche Etappe auf dem Jakobsweg zum Erwachsenenbildungsprogramm. Leicht wird vergessen, dass auch die Sigristinnen und Sigristen am der Kirchen am Weg von der grösseren Besucherfrequenz der Kirchen an Pilgerwegen mit betroffen sind.

Sigristin Mosimann aus der Kirchgemeinde Unterseen stellt den Pilgern ein gutes Zeugnis aus. Sie seien anständige Gäste, ein nettes Volk,  sagt sie. Die meisten von ihnen seien etwas älter und gehörten zu einer Generation, die noch wisse, wie man sich in einem Kirchenraum benehmen muss. Einmal sei allerdings der Pilgerstempel gestohlen worden. Seither müsse man den neuen Stempel direkt bei ihnen verlangen.

Potential Pilgern

Im Werbeflyer für eine Gemeindepilgerreise der Kirchgemeinde Steffisburg wird das christlich-kirchliche Potential des  Pilgerns in den folgenden Worten umschrieben:?"Pilgern ist ein Dialog mit dem, was am Weg begegnet. Im Lauschen auf die Schönheit, die Geräusche, die Düfte in der Natur und in der Begegnung mit Menschen und ihren Werken werden pilgernde Menschen offen. Sie spüren Staunen und Dankbarkeit in sich.

Pilgern ist ein Unterwegssein auf äusseren und inneren Wegen. Wenn Menschen pilgern, beginnt sich auch in meinem Herzen und in meinem Kopf einiges zu bewegen.

Pilgern überschreite Grenzen. Es verbindet Regionen und die Menschen, aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Konfessionelle Zugehörigkeiten haben beim Pilgern kaum eine Bedeutung. Pilgern erleben sich als Kirche unterwegs.

Pilgern lädt ein, zur Ruhe zu kommen, die Stimme der Hoffnung neu zu hören und nach einer weiten, offenen Spiritualität zu suchen, deren Raum vom Dach des Himmels begrenzt wird und deren Energie sich aus Achtung und Liebe nährt."

Thomas Schweizer

Links

Ausbildung Pilgerbegleitung 2009.
Ausbildung Pilgerbegleitung 2009.