Portrait Ursula Stettler, Thun-Strättligen

"Ich will keine Menschen-Verwalterin werden"

Als ich das erste Mal das Kirchgemeindehaus Markus in Thun-Strättligen betrat, fiel mir das Anschlagbrett auf: Tai Chi, Meditatives Tanzen und vieles mehr wurde angeboten. "Was für eine lebendige, vielseitige Kirchgemeinde!", dachte ich. Der erste Eindruck bestätigte sich nach dem Stellenantritt. Die Arbeitsbedingungen für mich als Sozialarbeiterin sind hier ideal. Bereits seit 20 Jahren wirke ich in der Fachstelle Erwachsene und Familien der Kirchgemeinde Thun-Strättligen. Das Kollegium arbeitet seit den 1970er Jahren nach dem Grundsatz: Verkündigung, Diakonie und KUW sind auf der gleichen Ebene angesiedelt.

Das Team Sozialarbeit besteht aus fünf Sozialarbeitenden, die alle ein Fachstudium absolviert haben. Wir nennen uns auch Sozialarbeiterin und Sozialarbeiter. Sozialdiakonin ist den meisten Menschen hier ein unbekannter Begriff; es lässt nicht klar erkennen, was das ist. Ich erlebe viel Wertschätzung und Unterstützung durch den Kirchgemeinderat und die Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen in der Kirchgemeinde. Diese Unterstützung trägt mich und ist in unserem Beruf wichtig.

Familien stehen wie eh und je unter einem enormen Druck, alles unter einen Nenner zu bringen: Die Partnerschaft pflegen, Kinder angemessen in ihrem Werden begleiten, die nötigen Finanzen aufbringen, den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht werden. Manchmal kommt eine Erkrankung dazu... Die Balance halten, kann schnell zu einem Kraftakt werden. Eine grosse Verschiebung der Themen stelle ich nicht fest, mit Ausnahme der Finanzen. Armut bei uns – das ist für die meisten nicht vorstellbar. Und doch begegne ich immer häufiger Familien, welche mit minimalsten Mitteln auskommen müssen. Eine Einladung zum Kindergeburtstag kann ein schmales Budget bereits überstrapazieren. Die Erwartungen sind hoch, ein Pixi-Buch reicht nicht mehr als Geschenk.

Der Gang zum Sozialdienst der politischen Gemeinde fällt vielen Leuten schwer. Sich für eine Beratung bei uns zu melden, empfinden Viele leichter. Nebst sorgfältigen Abklärungen, zum Beispiel betreffend Budget, schreibe ich falls nötig Gesuche an Hilfswerke etc. Darüber hinaus habe ich aber auch die Möglichkeit, aus einem Fonds der Kirchgemeinde rasch und unkompliziert für eine finanzielle Entlastung zu sorgen. Zum Beispiel, wenn Eltern den bescheidenen Beitrag für den Besuch der Spielgruppe nicht aufbringen können.

Meine Arbeit lässt sich in drei Hauptbereiche einteilen: Persönliche Beratungen von Menschen, die Unterstützung in Lebenskrisen suchen, wie Partnerschaftsprobleme, Trennung, Besuchsrechtsregelung, Finanzen usw; Aufbau und Umsetzung von Angeboten der Kirche für Familien und Kinder (oft auch in Vernetzung mit anderen Institutionen); Begleitung von freiwilligen Mitarbeitenden in Projekten. Die Angebote der Fachstelle wirken vielfach präventiv, das gilt auch für die insgesamt 13 Spielgruppen und 4 MuKi/VaKi-Turngruppen. Dazu kommen 6 Krabbelgruppen für Eltern mit ihren Kleinkindern. Wichtig ist auch der Einelternfamilien-Treff, der monatlich stattfindet. Jeweils 13 Frauen nehmen daran teil, die Gruppe wird von mir als Fachfrau moderiert und fachlich unterstützt. Die alleinerziehenden Mütter schätzen den Gesprächsaustausch über Situationen, die sich in ihrem oft belastenden Alltag zeigen.

Mein Beruf ist mir nicht verleidet. Ich will mich, auch nach 20 Jahren, berühren lassen, von den Menschen und ihren Sorgen. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann höre ich auf. Auf keinen Fall will ich eine Verwalterin von Menschen und deren Schicksalen werden. Neben oft belastenden Themen, erlebe ich immer wieder viel Erfreuliches.

Ganz besonders freut mich zum Beispiel die Geschichte einer jungen alleinerziehenden Mutter, die einst zur Beratung kam, später die Ausbildung zur Spielgruppenleiterin machte, jetzt in diesem Beruf arbeitet und dadurch anderen Frauen zum Vorbild wurde.

Der Druck auf die öffentlichen Sozialdienste nimmt zu. Oft leisten wir ergänzende Beratungen und Hilfen im Alltag. Wir wollen weiterhin für Familien mit Kindern da sein. Diese offenen, niederschwelligen Angebote sind auch ein Dienst der Kirche. Die Menschen kommen zu uns ins Kirchgemeindehaus, weil wir ihnen das Angebot machen, das sie brauchen.

Ich kann mir keinen besseren Arbeitsort vorstellen. So vielschichtig und abwechslungsreich sind die Aufgaben in meiner Stelle, und auch die Kirchgemeinde ist ständig im Wandel. Wir denken voraus, versuchen den Puls der Basis zu spüren und ihre Bedürfnisse aufzunehmen.

Vor vielen Jahren las ich einen Text der Pfarrerin Ursula Holtey, worin sie Momente im Leben beschreibt, in denen man tiefe Dankbarkeit und Verbundenheit empfindet. Ursula Holtey bezeichnete diese Erfahrungen als Sekundengebete. Solche Momente erlebe ich auch in meiner Arbeit.

Barbara Richiger