1910 – 1920 Ernst Marti
Das Bernerland und seine Kirche
Bericht über das religiöse, kirchliche und sittliche Leben der bernischen Landeskirche in den Jahren 1910 – 1920. Im Auftrag des evangelisch-reformierten Synodalrates verfasst von Ernst Marti, Pfarrer in Grossaffoltern, 60 Seiten.
Von 1874 bis 1909 berichtete der Synodalrat über das religiöse, kirchliche und sittliche Leben im Zeitabstand von vier Jahren. Durch Beschluss der Synode im Jahre 1901 wurde die Berichtsperiode auf neu zehn Jahre festgesetzt, so dass der bisherige Vierjahresbericht zum Jahrzehntbericht wurde. Wie bisher dient als Grundlage der Berichterstattung die Nachfrage des Synodalrates bei den Pfarrämtern und in den Kirchgemeinden über deren Tätigkeit und deren Beurteilung des Tuns und Ergehens der Bevölkerung. Auffallend weisen die Jahrzehntberichte mit einer einzigen Ausnahme neu einen Titel auf. Es entspricht dies der anderen Beobachtung, dass die vom Synodalrat beauftragten Autoren in grösserer Freiheit an die Verarbeitung des thematischen Materials herangehen, als dies bisher der Fall war.
Das gilt gleich schon für den ersten in der Reihe der Jahrzehntberichte. Er beginnt nämlich mit einer sorgfältigen soziologischen Analyse des bernischen Kirchengebietes. Der Berichterstatter geht davon aus, dass die Natur die Siedlungsweise der Menschen bedingt und diese ihrerseits das Denken und die ganze Weltanschauung beeinflusst. Er unterscheidet in der Siedlungsweise das Bergdorf, den Einzelhof, das Dorf im Flachland, den Jura mit seinen Höhen und Tälern, und die Stadt, nicht ohne dabei zu bedenken und zu erwähnen, dass auch das Leben in Spitälern, Gefängnissen und Anstalten als besondere Siedlungsweise zu bezeichnen sind. Er beschreibt, wie unterschiedlich die Siedlungsweise das Leben der Menschen und damit auch der Kirchgemeinden religiös und sittlich prägt. Auf Grund der Berichterstattung aus den Gemeinden entsteht dadurch ein ausserordentlich vielfältiges, sehr lebendiges Bild des Bernerlandes und seiner Kirche.
Es sollten allerdings andere Ereignisse die Zeit der Berichtsperiode weit mehr noch prägen und beeinflussen, als wie und wo die Menschen wohnen. Zuerst wird daran erinnert, wie in besonderer Weise die damalige Zeit und die sich als modern verstehende Kultur ihren spezifisch schweizerischen Ausdruck in der Landesaustellung 1914 in Bern gefunden hat, wie dann aber der 1. August desselben Jahres, wie es der Autor nennt, einen Umschwung der Stimmung von unerhörter Schroffheit hervorruft. Was in den damaligen Jahren geschah, beschreibt der Zeitzeuge im Bild der vier apokalyptischen Reiter. Die Landesausstellung war der Reiter auf dem weissen Pferd: Gefühl der Kraft und der Überlegenheit. Der Reiter auf dem roten Pferd war der Krieg. Dem Dröhnen seiner Hufe folgte der Reiter auf dem schwarzen Pferd: Die Teuerung und Rationierung, und schliesslich der Reiter auf dem fahlen Pferd: Die Grippe.
Für die rückblickende Berichterstattung hatten die Ereignisse spürbare Konsequenzen. Einerseits kommt zu den lokalen Kirchgemeinden, wenn auch nur als vorübergehendes Phänomen, neu hinzu die Soldatengemeinde, die Kirche verlässt dadurch das angestammte Siedlungsgebiet, und für manchen Geistlichen wird das Pfarramt zur Armeeseelsorge. Zum andern überzieht der Krieg das vorher eben noch beschriebene Siedlungsgebiet, und deshalb erfolgt die Berichterstattung unter dem Gesichtspunkt des Einflusses dieses Krieges auf die Volksseele und damit sehr direkt auch auf deren Religiosität und auf die Sittlichkeit.
Begreiflich dass der Bericht über eine wie damals so bewegte und in ihren Grundfesten erschütterte Zeit in die Frage ausmündet: Was nun? Drei Richtlinien gibt dieser erste Jahrzehntbericht der Kirche für ihre weitere Zukunft mit auf den Weg: Kampf gegen den durch den allgemeinen Zusammenbruch angerichteten geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Schaden, glaubwürdige Liebestätigkeit und Arbeit mit der Jugend.
Umfangreich ist der dem Bericht beigefügte Anhang. Er nennt wie bisher die Kirchenbehörden: Die Mitglieder von Synode, Synodalrat und Prüfungskommission. Publiziert sind wie bisher die Zahlen der kirchlichen Statistik. Neu kommt hinzu ein Überblick über die vom Synodalrat angeordneten gesamtkirchlichen Kollekten.
Als ansprechende Besonderheit soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieser erste Jahrzehntbericht bebildert ist mit einer beträchtlichen Anzahl schmucker Zeichnungen von bernischen Kirchen.
Der Verfasser des Berichtes, Ernst Marti, war Pfarrer in Grossaffoltern, Synodeabgeordneter und Mitglied des Synodalrates.